Kindgerecht oder alltagstauglich
Georg Lenz • 9. Juni 2025
Zwischen professioneller Pädagogik und bedingungsloser Liebe – ein ehrlicher Spagat

Wenn ich an die Arbeit mit Kleinkindern denke, lande ich immer wieder bei einem Gedanken, der für mich sonnenklar ist. Doch wenn ich an die praktische Umsetzung denke, stellt sich mir die folgende Frage in den Raum:
Ist das, was wir als "Zusatz" zur pädagogischen Arbeit verstehen – nämlich bedingungslose Liebe, emotionale Wärme und persönliche Nähe – wirklich nur eine willkommene Ergänzung?
Oder ist es in Wahrheit der eigentliche Kern dessen, was Frühbetreuung ausmacht?
Wie vereinen wir in der frühen Kindheitspädagogik professionelle Haltung und bedingungslose Liebe?
Und sind wir als Gesellschaft, als Fachkräfte, als Strukturen eigentlich schon bereit dafür?
Ich erlebe in meiner Arbeit mit Eltern und Fachkräften, dass diese Frage nicht nur berechtigt ist, sondern tiefgreifend. Denn sie berührt einen inneren Widerspruch, der selten offen ausgesprochen wird: Wir wünschen uns eine professionelle Betreuung für unsere Kleinsten – wissenschaftlich fundiert, reflektiert, sicher. Und gleichzeitig spüren wir, dass Kinder etwas viel Ursprünglicheres brauchen: Liebe, Nähe, Zugewandtheit – frei von Bedingungen, Erwartungen und Bewertungen.
Liebe ist kein pädagogisches Konzept – aber das stärkste Werkzeug
Bevor wir weitergehen, lohnt sich ein Blick auf den Begriff selbst:
Was meinen wir eigentlich mit "bedingungsloser Liebe"?
Der Neurobiologe Dr. Gerald Hüther beschreibt sie als die Erfahrung, "dass man als Mensch um seiner selbst willen angenommen und wertgeschätzt wird – ohne etwas dafür leisten zu müssen." Es ist ein Zustand, in dem sich ein Mensch sicher fühlt, weil er sich nicht ständig beweisen, anpassen oder rechtfertigen muss. Hüther beschreibt bedingungslose Liebe außerdem als "das unbedingte Interesse an der Entfaltung eines anderen Menschen" – ein Interesse, das nicht davon abhängt, ob das Kind sich angepasst, leistungsfähig oder pflegeleicht zeigt. Gerade Kinder brauchen diese Form von Liebe wie die Luft zum Atmen. Sie ist die Grundlage für jedes echte Vertrauen – in andere, aber auch in sich selbst.
Bedingungslose Liebe – das klingt in einem Fachtext fast fehl am Platz. Doch wenn ich mit Fachkräften spreche, mit Eltern, mit Menschen, die tagtäglich mit Kindern leben, dann fällt dieser Begriff irgendwann immer. Manchmal leise, zögerlich. Manchmal fast entschuldigend. Dabei ist genau das unser stärkstes Werkzeug – unser Fundament. Auch wenn bedingungslose Liebe kein klassisches pädagogisches Konzept ist, ist sie nach zahllosen wissenschaftlichen Studien aus kindheitspädagogischen Ansätzen längst nicht mehr wegzudenken. Sie ist, wie Gerald Hüther betont, kein pädagogischer Luxus, sondern ein Entwicklungsgrundbedürfnis – besonders in den ersten Lebensjahren.
Ein Kind, das sich geliebt fühlt, das erfährt: "Ich bin richtig, wie ich bin", kann wachsen. Und zwar nicht im Sinne eines Entwicklungsmeilensteins, sondern im Vertrauen auf sich selbst, auf andere, auf das Leben.
Aber wie lässt sich das in einem System leben, das auf Effizienz, Strukturen und Zeitpläne ausgelegt ist?
Wie gelingt es, Liebe nicht zu einem privaten Extra zu machen – sondern zum Kern unserer professionellen Haltung?
Und noch etwas gehört hierher, das oft übersehen wird: Selbstliebe.
Wer mit Kindern arbeitet, braucht nicht nur Einfühlungsvermögen, sondern auch eine stabile Verbindung zu sich selbst. Es ist schwer, bedingungslos anzunehmen, wenn man sich selbst ständig in Frage stellt. Selbstliebe ist kein Beiwerk, sondern das tragende Fundament, auf dem alles andere aufbaut. Sie schützt vor Überforderung, vor Ausbrennen, vor Härte gegen sich und andere. Und sie sollte ein fester Bestandteil jeder Ausbildung zur pädagogischen Fachkraft sein – nicht als Randthema, sondern als Basis.

Ein bewusster Umgang mit dem Begriff Liebe
Gerade weil "Liebe" ein so starker Begriff ist, braucht es einen reflektierten und bewussten Umgang mit seiner Bedeutung. Liebe ist kein eindeutig definierter pädagogischer Fachbegriff, sondern tief individuell geprägt – durch Biografie, durch Kultur, durch persönliche Werte. Was die eine als liebevoll empfindet, kann für den anderen übergriffig oder unangemessen wirken.
Deshalb ist es wichtig, dass wir in der Pädagogik nicht nur von Liebe sprechen, sondern auch über sie:
Was meinen wir damit? Wie definieren wir sie im beruflichen Kontext?
Welche Haltung steckt dahinter – und wo liegen die Grenzen?
Bedingungslose Liebe, wie sie etwa Gerald Hüther beschreibt, ist klar an der Entfaltung des Kindes orientiert – frei von Bedingungen, frei von Leistungsdenken, aber eingebettet in Schutz, Würde und Verantwortung. Sie hat nichts mit Beliebigkeit oder übertriebener Nachsicht zu tun. Und sie darf niemals als Rechtfertigung für Grenzverletzungen herhalten.
Natürlich lässt sich diese Form von Liebe nicht kontrollieren oder messen – das macht sie so stark, aber auch so sensibel. Gerade deshalb gehört die Auseinandersetzung mit ihr in jede Ausbildung. Denn nur, wenn wir bewusst mit dem Begriff umgehen, können wir ihn sinnvoll und professionell mit Leben füllen.
Der tägliche Spagat der Fachkräfte
Ich habe größten Respekt vor allen, die diesen Spagat täglich gehen: Fachkräfte, die mit Gruppen von zehn, manchmal zwölf unter Dreijährigen arbeiten. Die trösten, wickeln, anziehen, vorlesen, begleiten – oft gleichzeitig. Die diese Aufgabe lieben. Und die dabei versuchen, jedem Kind ein Stück Geborgenheit zu schenken.
Es braucht eine (fast) übermenschliche Präsenz, um in diesem Rahmen noch echte Beziehung zu leben. Um sich nicht zu verlieren zwischen Elterngesprächen, Dokumentationspflichten und Zeitdruck. Und genau hier wird deutlich: Professionelle Pädagogik allein reicht nicht.
Ohne ein tiefes, inneres Ja zum Kind – und zu seiner Einzigartigkeit – wird Betreuung mechanisch. Stumpfe Routine. Und das spüren Kinder. Gerade die Kleinsten. Sie spüren, ob jemand sie "erzieht" oder sich auf sie einlässt. Ob jemand sie durch den Tag begleitet oder sie durch den Tag schleift.
Zwischen Anspruch und Wirklichkeit:
Sind wir bereit?
Ich frage mich:
Sind wir als Gesellschaft überhaupt schon bereit für eine Pädagogik, die beides ernst nimmt – die Wissenschaft und die Liebe?
Die politischen Rahmenbedingungen sprechen eine andere Sprache. Fachkräftemangel, Unterfinanzierung, überlastete Systeme – all das erschwert eine Haltung, die mehr will als Aufsicht und Anleitung.
Und auch im direkten Austausch vermisse ich oft diesen Mut, über Liebe zu sprechen. Als wäre sie zu weich, zu privat, zu unprofessionell und völlig deplatziert. Dabei zeigt uns die Bindungsforschung längst, wie zentral emotionale Sicherheit ist – nicht nur für das Wohlbefinden, sondern für jede Form von Lernen, Entwicklung, Beziehung.
Wir bräuchten Räume, in denen diese Haltung selbstverständlich ist. In denen es nicht als Luxus gilt, für das Kind im eins-zu-eins-Kontakt da zu sein, wenn es weint. In denen es keine Rechtfertigung braucht, um Beziehung über Struktur zu stellen.

Besonders unter drei: Wenn Liebe alles ist
Je jünger ein Kind ist, desto direkter nimmt es die Welt wahr. Für ein Einjähriges zählt nur: Fühl ich mich sicher – oder nicht? Nähe oder Alleinsein. Gesehenwerden oder übersehen werden.
Wenn ein Kind unter drei Jahren in Betreuung ist, dann ist die Fachkraft oft die erste große Bezugsperson außerhalb der Familie. Was für ein Geschenk – und was für eine Verantwortung. Denn hier entscheidet sich, ob das Kind Vertrauen fassen kann. Ob es sich willkommen fühlt. Ob es in dieser Welt einen Platz hat. Angesichts dieser Bedeutung ist es unnötig zu erwähnen, welche Auswirkungen ein häufiger Bezugspersonenwechsel auf das Kind in diesem Alter hat.
Professionelle Haltung allein reicht hier nicht. Es braucht Herz. Wärme. Geduld. Und manchmal auch Mitgefühl mit sich selbst, wenn man diesem Anspruch nicht immer gerecht wird.
Denn auch das gehört zur Wahrheit: Diese Liebe – verstanden im Sinne Hüthers als ein tiefes menschliches Grundbedürfnis – lässt sich nicht per Knopfdruck abrufen. Sie braucht Zeit, Bindung, Beziehung. Und: passende Rahmenbedingungen, um überhaupt entstehen zu können.
Wir müssen außerdem dringend über unsere Sprache sprechen. Begriffe wie "Fremdbetreuung" treiben einen Keil zwischen das, was eigentlich zusammengehört – nämlich Nähe und Professionalität. Denn die Menschen, die Kinder in ihren ersten Lebensjahren täglich begleiten, sind eben nicht fremd – und sie dürfen es auch nicht bleiben. Weder für das Kind, noch für die Eltern. Sprache prägt Haltung. Wenn wir Beziehung ermöglichen wollen, brauchen wir auch eine Sprache, die diese Beziehung anerkennt und stärkt.
Was die alten Denker schon wussten
Die Verbindung von Liebe, Beziehung und Bildung ist kein neuer Gedanke – sie ist so alt wie die Menschheit selbst. Was wir heute in Studien belegen und in Fachkreisen diskutieren, wurde bereits vor Jahrhunderten in Worte gefasst.
Platon etwa sprach davon, dass die Seele eines Kindes durch Liebe geformt werde – und dass echte Bildung nicht im Kopf, sondern im Herzen beginnt. Für ihn war Paideia, die Erziehung des Menschen, ein Weg der inneren Entfaltung.
Augustinus formulierte im 4. Jahrhundert: „In dir muss brennen, was du in anderen entzünden willst.“ – ein Satz, der in seiner Tiefe kaum aktueller sein könnte für alle, die Kinder begleiten.
Auch Konfuzius stellte Beziehungen und Fürsorge ins Zentrum seiner Lehren. Er sagte sinngemäß: „Was du selbst nicht erleiden willst, das füge auch keinem anderen zu.“ – eine ethische Grundlage, die in der Begleitung kleiner Kinder nicht wegzudenken ist.
Und im 18. Jahrhundert war es
Jean-Jacques Rousseau, der in seinem Werk Émile forderte, Kinder nicht zu formen, sondern ihnen Raum zu geben, sich selbst zu entwickeln – getragen von Beziehung, nicht von Belehrung.
Diese Gedanken zeigen: Der Wunsch, Kinder mit Liebe und Haltung zu begleiten, ist kein innovativer oder gar revolutionärer Gedanke. Er liegt längst in unserem kulturellen, zwischenmenschlichen und philosophischen Verständnis.
Jesper Juul hat diesem Verständnis seine moderne Stimme gegeben. Seine Idee der Gleichwürdigkeit – also der tiefen Achtung vor der Würde und Einzigartigkeit des Kindes – ist im Kern nichts anderes als eine zeitgemäße Antwort auf genau dieses alte Wissen. Auch er stellte klar: Es geht nicht um Erziehungstechniken, sondern um Beziehung. Um echtes Interesse. Um gelebte Verantwortung.
Wenn wir heute über bedingungslose Liebe in der Frühpädagogik sprechen, dann knüpfen wir also nicht an ein neues Ideal an – sondern an eine lange, menschliche Tradition. Eine, die wir dringend wieder ernst nehmen sollten.
Was es braucht – strukturell, gesellschaftlich, innerlich
Damit diese Verbindung zwischen professioneller Pädagogik und echter Liebe gelingen kann, braucht es mehr als gute Absichten.
Es braucht:
- Zeit – für Beziehung, für Rituale, für echte Begegnung - sowohl im Stillstand als auch in voller Dynamik und allem dazwischen
- Raum – im wörtlichen wie im übertragenen Sinn
- Ausbildung – die individuelle emotionale Prozesse ernst nimmt, nicht nur pädagogische Methoden
- Begleitung – durch Supervision, Reflexion, Teamkultur und Fortbildungen
- Wertschätzung – gesellschaftlich und politisch
- und vor allem: Vertrauen – in die Menschen, die Kinder begleiten
Wir müssen wegkommen von der Vorstellung, dass Liebe ein Privileg der Familie ist und Professionalität das Gegenteil davon. In Wahrheit beginnt echte Professionalität dort, wo wir lieben, ohne zu bewerten. Wo wir begleiten, ohne zu kontrollieren. Wo wir gestalten, ohne zu dominieren.
Mein persönlicher Standpunkt
Ich merke oft selbst, wie schwer es mir fällt, beides zu halten: den professionellen Blick – und das bedingungslose Annehmen.
Es gibt Tage, da gelingt mir der Spagat. Und es gibt Tage, da merke ich: Ich bin zu müde, zu voll, zu sehr in der Struktur gefangen. Und doch weiß ich: Der Moment, in dem ein Kind mich anschaut – mit diesem Blick, der nichts fordert, aber alles erwartet – ist der Moment, der mich erinnert, warum ich diesen Weg gehe.
Wir sind vielleicht noch nicht ganz da. Aber wir sind unterwegs. Und das ist mehr, als viele zu hoffen gewagt haben.
Ein Ausblick
Vielleicht ist das Ziel gar nicht, die perfekte Verbindung zwischen professioneller Pädagogik und bedingungsloser Liebe zu finden – so wie Gerald Hüther sie versteht: als Voraussetzung für gesunde Entwicklung und nicht als emotionale Zugabe. Vielleicht geht es darum, den Mut nicht zu verlieren, diesen Spagat immer wieder zu wagen.
Denn irgendwo dazwischen, in diesem Spannungsfeld, entsteht etwas ganz Besonderes: Eine Pädagogik, die menschlich ist. Die Kinder sieht. Und die sich nicht davor scheut, das Wort "Liebe" in den Mund zu nehmen.
Nicht als Schwäche – sondern als Haltung.
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Der Begriff „Rückschritt“ fällt im Zusammenhang mit der Eingewöhnung in den Kindergarten oft, wenn Kinder nach einer Phase des Wohlfühlens plötzlich wieder vermehrt nach Nähe und Sicherheit suchen. Eltern und Erzieherinnen stellen sich dann die Frage, ob etwas schiefgelaufen ist, ob das Kind vielleicht nicht bereit für den Kindergarten ist oder ob der Übergang ins neue Umfeld zu früh erfolgte. Doch dieser Gedanke ist nicht nur veraltet, sondern auch wenig hilfreich.

Manchmal sitze ich da und überlege mir, worüber ich schreiben kann. Mir kommen alle möglichen Themen in den Sinn. So wie jetzt. Eins davon fühlt sich gerade ganz authentisch an, also formuliere ich eine Überschrift. Jaaa, das klingt gut, denke ich mir. Das kennen sicher viele Eltern, worüber es unter dieser Überschrift gehen wird. Ich fange an, im Kopf Sätze zu bilden. Ich mag es, wenn sie so richtig wohlgeformt sind und nach was klingen (ja, in diesem Artikel wird das Wörtchen “ich” wohl öfter vorkommen).

Immer wieder lese ich in Konzeptionen und Ratgebern das Wort "übernehmen" - die Fachkräfte übernehmen mehr und mehr die Betreuung des Kindes. Genau da muss das Umdenken stattfinden, sowohl bei den Fachkräften als auch bei den Eltern. Und schon ist das Geheimnis gelüftet. Die Eingewöhnungsphase im Kindergarten markiert einen bedeutsamen Meilenstein für Kinder und Eltern gleichermaßen. Eine aktive Übergabe der Beziehungsgestaltung durch die Eltern spielt dabei nicht nur eine entscheidende Rolle für einen gelungenen Start. Sie beeinflusst ebenso den Gesamtverlauf der Kindergartenzeit.